Berechnet: mathematisch und politisch – indirekte Effekte der Grippe-Impfungen für alle Kinder

Zurzeit prüft die Ständige Impfkommission die Effekte von Grippe-Impfungen bei Kindern. Für gesunde Kinder bieten diese Impfungen einen vergleichsweise geringen eigenen Nutzen. Dennoch gibt es Forderungen zu jährlichen Impfungen aller Minderjährigen. Begründet mit dem Schutz anderer Altersgruppen oder mit der Einsparung von Kosten. Mit Hilfe von mathematischen Modellierungen werden voraussichtlich noch in diesem Jahr die Gründe für eine Grippe-Impfempfehlung für alle Kinder gefunden.

Die Initiative freie Impfentscheidung e.V. kritisiert entschieden jeden Ansatz, bei dem volkswirtschaftliche Aspekte über die Gesundheit von Kindern gestellt werden. Allen voran, wenn fragwürdige mathematische Modellierungen dazu verwendet werden, um ein solches Vorgehen auch noch zu rechtfertigen.

In der aktuellen Themensetzung der Ständigen Impfkommission (STIKO) findet sich für das Jahr 2024 eine systematische Übersichtsarbeit (Systematic Review) zu den „indirekten Effekten der Influenza-Kinderimpfung“.[1] Dahinter verbirgt sich die Ankündigung einer wissenschaftlichen Arbeit, um alle verfügbaren Informationen zu diesem Thema zu sammeln, zu sichten und zu bewerten. Grundlage einer solchen Review sind bereits veröffentlichte Fachliteratur und offizielle Statistiken. Was aber ist unter einem indirekten Effekt einer Impfung zu verstehen?

Direkte und indirekte Effekte von Impfungen

Als direkte Effekte einer Impfung werden alle Auswirkungen bezeichnet, die die geimpfte Person allein betreffen. Allen voran der erwünschte Effekt, durch eine Impfung eine Infektion mit dem entsprechenden Erreger zu verhindern. Falls dieser Effekt durch die Impfstoffe nicht erreicht wird, soll nach Möglichkeit zumindest die Schwere der Erkrankung reduziert werden. Auch eine Verringerung der Gefahr an der entsprechenden Krankheit zur versterben, wird zu den direkten Effekten von Impfungen gezählt.

Die indirekten Effekte von Impfungen richten sich hingegen auf das Umfeld der geimpften Person. Das ist auf persönlicher Ebene möglich, zum Beispiel bezogen auf die Erkrankung von Familienmitgliedern. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist dies denkbar, zum Beispiel als Unterbrechung der Ansteckung innerhalb einer ganzen Region.

Werden die Effekte von Impfungen aus dem Interesse der einzelnen Person heraus bewertet, richtet sich jeder Nutzen und jedes Risiko auf die eigene Gesunderhaltung. Werden die Effekte von Impfungen hingegen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bewertet, wird den Impfungen ein Nutzen als „soziale Wertgröße“ zugeordnet.[2] In jüngster Vergangenheit hat die zunehmende Bewertung von Impfungen aus gesellschaftlicher Sicht zu einer immer länger werdenden Liste von möglichen indirekten Effekten geführt.

Aus gesamtgesellschaftlicher Sichtweise

Es wird als indirekter Effekt einer Impfung bezeichnet, wenn eine andere Person im direkten Umfeld der geimpften Person nicht mit dem entsprechenden Erreger erkrankt. Zum Beispiel das Geschwisterkind. Auch als indirekter Effekt gilt, wenn die Impfungen einer Altersgruppe – zum Beispiel Kinder – Auswirkungen auf die Erkrankungszahlen einer anderen Altersgruppe – zum Beispiel Senioren – haben. Wird durch Impfungen eine Verringerung der Zirkulation eines bestimmten Erregers in einer bestimmten Region erreicht, bezeichnet das den wohl bekanntesten indirekten Effekt von Impfungen: die Herdenimmunität. Auch wenn kaum einer der heutigen Impfstoffe es leisten kann, tatsächlich eine Herdenimmunität zu erreichen, wird für dieses Ziel intensiv mit Impfungen geworben.

Noch einen Schritt weiter in der gesellschaftlichen Sichtweise geht es, wenn Impfungen in Bezug zu wirtschaftlichen Kosten gesetzt werden. In diesen Fällen wird den Impfungen ein sozialer Nutzen zugesprochen, da pauschal davon ausgegangen wird, dass sie die Kosten von Erkrankungen reduzieren. Denn diese Kosten werden von allen Bürgern über ihre Krankenkassenbeiträge getragen. Betrachtet werden dabei alle Kosten, die durch eine Krankheit entstehen können: Kosten von Medikamenten, Kosten eines Krankenhausaufenthaltes sowie Kosten der pflegenden Eltern in Abwesenheit ihrer Arbeitsstelle (Arbeitsausfälle). Die Kosten der Impfungen werden dem in der Regel gegenübergestellt: Kaufpreis der Impfstoffe sowie Tarife der impfenden Ärzte. Weitere Kosten, die Impfungen durchaus verursachen, gehen interessanterweise nicht in die Gewichtung mit ein. Allen voran sind dies Impfkomplikationen, die Kosten für weitere Arzttermine und Medikamente nach sich ziehen.

Auch wird Impfungen gerne der Effekt zugesprochen, zu einer Entlastung der kritischen Infrastruktur, allen voran der Krankenhäuser, beizutragen.[3] Eine Argumentation, wie sie insbesondere für die COVID-19-Impfstoffe in den letzten drei Jahren intensiv vorgebracht wurde. Dass es sich bei den medizinischen Versorgungsengpässen um lange bekannte Defizite im Gesundheitssystem handelt, wie zum Beispiel einem Mangel an Pflegepersonal und einem Abbau von Kliniken, auf die keine Impfung irgendeinen Effekt hätte, wird dabei gerne vernachlässigt.

Mathematische Modellierungen

Da für gesunde Kinder die direkten Effekte einer einmaligen oder gar jährlichen Impfung gegen Grippe (Influenza) kaum gegeben sind, sollen jetzt scheinbar die indirekten Effekte einer jährlichen Grippe-Impfung aller Kinder eine neue Gewichtung erhalten. Es macht den Eindruck, als würde gezielt nach Effekten auf gesellschaftlicher Ebene gesucht, um eine solche Impfempfehlung endlich begründen zu können. Denn auf individueller Ebene betont das Robert Koch-Institut nach wie vor: „Eine Influenza-Erkrankung bei gesunden Kindern oder bei Erwachsenen unter 60 Jahren verläuft in der Regel ohne schwerwiegende Komplikationen.“[45]] Zur Forderung nach Grippe-Impfungen für alle Kinder haben wir bereits hier unsere Recherche zu Individualschutz und Fremdschutz veröffentlicht.

Um mögliche indirekte Effekte von Impfungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene berechnen zu können, werden gerne mathematische Modellierungen durchgeführt. Bei einer Modellierung wird entsprechend der gewählten Fragestellung ein Modell erstellt. Als eine Simulation der Wirklichkeit werden mit diesem Modell neue Daten erzeugt. Diese wiederum dienen dann als Grundlage, um eine Entscheidung zu genau dieser Fragestellung zu fällen. Die Ergebnisse einer solchen Modellierung sind somit direkt abhängig von der formulierten Fragestellung, dem gewählten Modell und den eingespeisten Ausgangsdaten. Es ist tatsächlich ein Leichtes, zu einer offenen Frage exakt die gewünschten Ergebnisse zu modellieren, indem gezielt Daten verwendet oder verworfen werden. Modellierungen sind daher grundsätzlich kritisch zu betrachten, wenn Interessenskonflikte der Modellierer nicht auszuschließen sind oder mehr noch, Modellierungen unter Beteiligung von Pharmafirmen mit Vermarktungsinteressen durchgeführt werden.

Modellierung eines Impfstoffherstellers

Genau diese Problematik findet sich in einer Studie des Impfstoffherstellers GlaxoSmithKline (GSK), für die explizit die direkten und indirekten Effekten von Influenza-Kinderimpfungen in Deutschland modelliert wurden.[5] Die Modellierung wurde komplett durch GSK finanziert und nahezu alle Autoren der Studie sind bei GSK angestellt oder erhalten Förderungen durch GSK. Modelliert wurde eine jährliche Impfrate von 40 bis 60% aller Kinder zwischen 6 Monaten und 17 Jahren, betrachte über einen Zeitraum von 20 Jahren von 2017 bis 2036.

Dabei wird den Impfstoffen eine hohe Effektivität in der Verhinderung von Grippe-Erkrankungen zugesprochen, die wegen unterschiedlich vorkommender Virentypen nachweislich jährlich jedoch extrem schwankt. Der Impfstoffhersteller hat sich hier offensichtlich für die optimistischen Szenarien für seine eigenen Produkte entschieden. Als Ergebnis wird eine Verringerung der Krankheitslast der Kinder selbst sowie der älteren Bevölkerung in Deutschland berechnet. Dabei legen die Autoren für die Modellierung eine Grundannahme fest, die den Influenza-Impfstoffen einen Fremdschutz zuspricht, die die heutigen Impfstoffe de facto gar nicht erfüllen. Hier werden wieder einmal Kinder instrumentalisiert, um Senioren zu schützen – eine Denkweise, die sich innerhalb der Corona-Pandemie scheinbar etabliert hat. Die moralisch und rechtlich jedoch grundheraus abzulehnen ist. Zumal für Erwachsene ab 60 Jahren bereits eine eigene STIKO-Impfempfehlung besteht.

GlaxoSmithKline hat einen Grippe-Impfstoff für Kinder ab 6 Monaten auf dem Markt, der in Deutschland als Influsplit Tetra bezeichnet wird, international jedoch den Produktnamen Fluarix Tetra trägt.[6] Es bleibt abzuwarten, ob und wie die STIKO in ihrem aktuellen Review zu indirekten Effekten auch solche interessensgeleitete Modellierungen der Impfstoffhersteller bewerten wird.

Modellierung der deutschen Gesundheitsbehörde

Etwas anders ausgerichtet zeigt sich eine Modellierung, die durch das Robert Koch-Institut (RKI) gefördert wurde. Neben der Krankheitslast der Kinder und älterer Altersgruppen wurden hier die wirtschaftlichen Kosten (economic burden) von Grippe-Behandlungen in Deutschland modelliert.[7] Mit dem Ergebnis, dass die wirtschaftlichen Ausgaben für ein Kleinkind im Alter zwischen zwei und fünf Jahren deutlich höher berechnet wurden, als für Menschen über 60 Jahren. Die Gründe dafür liegen auf der Hand, sind doch Krankenhausaufenthalte für die Kleinsten von sehr viel mehr Pflegeaufwand, medizinischer Vorsicht und damit längerem Aufenthalt geprägt, als bei Erwachsenen. Auch lassen die Eltern, als Begleitpersonen der Kinder im Krankenhaus, die erzeugten Kosten nochmals steigen.

Für die Studie verglichen wurden Kinder, die an Influenza erkrankt sind (Labortestung, Influenza-Gruppe) mit Kindern, die an anderen Viren oder Bakterien erkrankt sind (Labortestung, Kontroll-Gruppe). Insbesondere Komplikationen wie Mittelohrentzündungen und Lungenentzündungen wurden dabei betrachtet. Interessanterweise haben die Behandlungen bei Mittelohrentzündungen in der Kontrollgruppe höhere Kosten erzeugt als in der Influenza-Gruppe. Kein Unterschied in den Kosten konnte aufgezeigt werden, wenn es um die Hospitalisierung bei Lungenentzündungen ging. Unabhängig davon, welcher Erreger ursächlich für die Lungenentzündung identifiziert wurde, glichen sich die Behandlungskosten bei den Kindern. Grundsätzlich sind laut den Ergebnissen die Kosten für Grippe-Behandlungen in Deutschland abhängig davon welche Influenza-Virenstämme in der Herbst- und Wintersaison zirkulieren und welche Influenza-Virenstämme in den jährlichen Influenza-Impfstoffen enthalten sind. Einen starken Einfluss haben auch die Schwankungen im Vorkommen der Erreger, also ob in einem bestimmten Zeitraum Grippeviren oder andere Atemwegserreger stärker vertreten sind. Die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür, wie über mehrere Jahre (2020 bis 2022) die erwarteten Grippe-Wellen nahezu ausgefallen sind, weil überwiegend SARS CoV-2-Viren zirkulierten.

Diese Modellierung unter Beteiligung des RKI richtet sich auf die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung und die Gefahr der Sterblichkeit bei einer Grippe-Diagnose. Somit auf die direkten Effekte, auf die Impfungen für die geimpfte Person einen Einfluss haben sollen. Darüber hinaus richtet sich die Modellierung auf die wirtschaftliche Belastung der deutschen Krankenkassen und der deutschen Steuerzahler. Somit auf die indirekten Effekte, die durch Impfungen zu einer finanziellen Entlastung aller führen sollen. Ausdrücklich wird in dieser Studie betont, dass die Ergebnisse im Entscheidungsprozess der Impfpolitik in Bezug auf Grippe-Impfungen genutzt werden können. Es ist daher zu erwarten, dass die STIKO in ihrem aktuellen Review auch auf diese Modellierung zurückgreifen wird.

Die Vorgehensweise, von den direkten Effekten von Impfungen weg zu driften und zunehmend auf die indirekten Effekte von Impfungen zu setzen, lässt nur folgenden Schluss zu: Wirtschaftliche Interessen bekommen eine zusätzliche Gewichtung in der Impfpolitik, wenn die Gesundheit der Kinder zusammen mit den wirtschaftlichen Kosten in die Waagschale geworfen werden.


[1] Robert Koch-Institut: Ständige Impfkommission, Aktuelle Themensetzung, Stand 23.01.2024 

https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/AktuelleThemensetzung/AktuelleThemensetzung_node.html

[2] Deutsches Ärzteblatt: Impfungen: Nutzenbewertung aus verschiedenen Blickwinkeln, 2010 

https://www.aerzteblatt.de/archiv/76432/Impfungen-Nutzenbewertung-aus-verschiedenen-Blickwinkeln

[3] Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) e.V.: Wieder keine freien Intensivbetten für kritisch kranke Kinder: DIVI fordert STIKO zum Handeln auf, 20.02.2024 

https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-wieder-keine-freien-intensivbetten-fuer-kritisch-kranke-kinder-divi-fordert-stiko-zum-handeln-auf

[4] Robert Koch-Institut: Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Influenza, Warum wird eine Impfung gegen Influenza nicht für alle empfohlen?, Stand 25.01.2024 

https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/Influenza/FAQ_Uebersicht.html

[5] Human Vaccines & Immunotherapeutics: Assessing direct and indirect effects of pediatric influenza vaccination in Germany by individual-based simulations, 06.12.2019 

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7227695

[6] Paul-Ehrlich-Institut: Saisonale Influenza-Impfstoffe, Stand 13.05.2024 

https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/influenza-grippe/influenza-node.html

[7] BioMed Central Public Health: Epidemiology and cost of seasonal influenza in Germany – a claims data analysis, 13.08.2019 

https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-019-7458-x