Die Geschichte der RSV (Respiratorischen Synzytial-Viren)-Impfstoffe ist geprägt von fatalen Rückschlägen. Schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle unter den ersten geimpften Kindern führten zu einem jahrzehntelangen Aussetzen der Impfstoffentwicklung. Alternativ kommen nun monoklonale Antikörper gegen RSV-Erkrankungen zum Einsatz. Das Risiko einer Verstärkung der Krankheit besteht weiterhin.
Mit der Entwicklung eines RSV-Impfstoffes sind bis heute gravierende Komplikationen in den 1960er Jahren verknüpft: Im Rahmen einer Studie zu einem der ersten RSV-Totimpfstoffe mussten rund 80% der geimpften Kinder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Zwei Kinder starben. Auslöser für die ungewöhnlich schweren Krankheitsverläufe und Todesfälle waren sogenannte infektionsverstärkende Antikörper (engl. Antibody-dependent enhancement, ADE).[1]
Entscheidend ist die Erstinfektion
Im Gegensatz zu neutralisierenden Antikörpern, die die Viruslast im Körper eines infizierten Menschen reduzieren, führen bindende Antikörper zu einer Erhöhung der Viruslast. Diese Typen von Antikörpern binden sich an die Oberfläche der Viren – konkret an sogenannte Fcγ-Rezeptoren – und erleichtern somit die Aufnahme der Viren in die Zellen. Infektionen werden in diesen Fällen namensgebend „verstärkt“. In der Folge erfährt der Mensch stärkere Krankheitssymptome über einen längeren Zeitraum mit einer erhöhten Gefahr für Komplikationen. Der körpereigenen Immunabwehr ist es in dieser Situation nicht möglich, die Virenvermehrung in Schach zu halten und sich in normalem Maße von der Infektion zu erholen.
Infektionsverstärkende Antikörper werden ausschließlich bei der ersten Infektion mit einem Virus gebildet. Bei der zweiten Infektion mit dem gleichen Virus (oder einem Subtyp des Virus) zu einem späteren Zeitpunkt kann es dann zu einem untypisch schweren Krankheitsverlauf kommen. Diese immunologische Besonderheit begrenzt den Einsatz von Impfungen erheblich, da mit einer Impfung genau diese erste Infektion imitiert wird.
Säuglinge, die den RS-Virus-Impfstoff erhielten und sich anschließend mit dem RS-Virus infizierten, hatten tendenziell eine schwerere klinische Erkrankung als Säuglinge, die diesen Impfstoff nicht erhielten. (übersetzt aus dem Englischen)[2]
Bekannt ist dieses Phänomen bislang bei Masern-, Denguefieber- und RSV-Impfstoffen. Aus diesem Grund sind a) ausschließlich Masern-Lebendimpfstoffe in Verwendung, werden b) Dengue-Totimpfstoffe konsequent erst nach einer laborbestätigten Dengue-Erstinfektion gegeben und wurde c) bis heute kein sicherer und effektiver RSV-Impfstoff für Kinder entwickelt.[3][4] Auch in der Entwicklung der COVID-19-Impfstoffe wurde die Gefahr der Infektionsverstärkung von Anfang an diskutiert, da dieses Phänomen bei Coronaviren bereits beobachtet wurde.[5] Eine neuere Studie nennt infektionsverstärkende Antikörper als eine mögliche Begründung für das erstaunliche Ergebnis, dass Menschen umso mehr COVID-19-Infektionen durchmachen, je mehr COVID-19-Impfungen sie erhalten haben.[6]
In Abhängigkeit vom Alter
Ob infektionsverstärkende Antikörper ein Problem darstellen, hängt in hohem Maße vom Alter ab. Babys und Kleinkinder sind für viele Infektionen noch als seronegativ zu betrachten. Das heißt, in der Kürze ihres bisherigen Lebensalters haben sie die betreffende Infektion noch nicht durchgemacht und es wurden keine Antikörper gegen die betreffenden Erreger gebildet. Eine Impfung führt bei Babys und Kleinkindern daher zu einer erstmaligen Bildung von Antikörpern – inklusive der Gefahr, dabei infektionsverstärkende Antikörper auszubilden. Ältere Kinder und Erwachsene hingegen sind für viele Infektionen als seropositiv zu betrachten. Das heißt, in der Spanne ihres Lebens haben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits Kontakt mit dem entsprechenden Erreger gehabt und entsprechende neutralisierende Antikörper gebildet. Eine Impfung führt bei älteren Kindern und Erwachsenen in der Regel zu einer Erhöhung der neutralisierenden Antikörper.
Die Impfpolitik steht damit seit Jahrzehnten vor einem Dilemma: Auf der einen Seite kann eine zweite Impfung logischerweise nicht ohne eine erste Impfung gegeben werden. Auf der anderen Seite soll eine natürliche Infektion von Babys und Kleinkindern unter allen Umständen verhindert werden. Weil es ein Bestreben ist jegliche Krankheitslast von den Kleinsten fernzuhalten und weil nach einer bereits durchgemachten Erkrankung die Notwendigkeit einer Impfung grundsätzlich in Frage gestellt würde.
Kein ideales Tiermodell bekannt
Im Zulassungsverfahren von Nirsevimab durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) wird auf die Problematik der infektionsverstärkenden Antikörper an mehreren Stellen eingegangen. Die EMA bezeichnet ADE als ein „theoretisches Risiko von monoklonalen Antikörpern“[7] und sieht dieses Risiko größtenteils durch die klinischen Studien des Herstellers sowie einige Tierversuche ausgeräumt. Dem gegenüber stehen die Eigeninteressen des Herstellers, der seine Studien bewusst so gestalten kann, dass die Zulassung seines Produktes nicht gefährdet wird. Ebenfalls dem gegenüber steht die Tatsache, dass es bis heute kein optimales Tiermodell für die Infektion mit RS-Viren gibt. Nagetiere und Affen gelten auch in der Impfstoffentwicklung als typische Versuchstiere. Davon sind insbesondere Mäuse und Baumwollratten nicht sonderlich anfällig für RSV-Infektionen, da ihre Zellen nur in begrenztem Umfang überhaupt von RS-Viren befallen werden.[1] Eine Übertragung dieser Studienergebnisse auf den Menschen ist nicht aussagefähig. Die Versuchstiere, die der Impfstoffhersteller Sanofi für seine Testungen ausgewählt hat, waren ausgerechnet Baumwollratten.
Erstaunlicherweise haben die Versuchstiere auch nicht die modifizierten monoklonalen Antikörper erhalten, wie sie heute Neugeborenen verimpft werden, sondern eine nicht-modifizierte Version von Nirsevimab – was die Übertragbarkeit des Tierversuches auf heute geborene Babys nochmals schmälert.[7]
Letztendlich hat sich die EMA wie in vielen Zulassungsverfahren zuvor damit zufriedengegeben, wie der Impfstoffhersteller sein eigenes Produkt bewertet: Der Antragsteller Sanofi ist der Meinung, dass ADE basierend auf theoretischen Erwägungen nicht als erhebliches potenzielles Risiko angesehen werden sollte. (übersetzt aus dem Englischen)[8]
In einer anderen Veröffentlichung der EMA, die konkret die Prüfungsschritte für Nirsevimab zur Zulassung für Kinder benennt (Paediatric Investigation Plan), wird die Abfrage nach „Bedenken hinsichtlich möglicher Langzeitfolgen in Punkto Sicherheit und/oder Effektivität im Zusammenhang mit der Anwendung bei Kindern“ (übersetzt aus dem Englischen)[9] mit „Ja“ beantwortet. Worauf genau sich diese Bedenken um Langzeitfolgen für Kinder beziehen, wird nicht erläutert. Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Problematik zur Impfung von Babys, die noch keinen Kontakt mit RS-Viren hatten, ist durchaus anzunehmen, dass sich diese Bedenken (auch) auf infektionsverstärkende Antikörper richten.
Hinweise seit dem Start der Impfungen
Mit Verabreichung von Nirsevimab an Neugeborene in vielen europäischen Ländern kam es zu einem noch ungeklärten Anstieg von Todesfällen bei Säuglingen, der durch Daten aus Frankreich aufgezeigt werden konnte.
Zum einen sind es die Erfassungen seit der Anwendung von Nirsevimab, zum anderen sind es neuere Auswertungen der klinischen Studien, die auf einen kausalen Zusammenhang von Nirsevimab und ADE hinweisen. So wurde international schon mehrfach kritisiert, dass in den Studien des Herstellers – sowohl vor als auch nach der offiziellen Zulassung des Produktes – die Neugeborenen von der Auswertung ausgeschlossen wurden, wenn sie innerhalb von 1 bis 7 Tagen nach Erhalt von Nirsevimab an RSV erkrankten. In genau dieser Zeitspanne wären schwere Symptome durch ADE zu erwarten und genau in dieser Zeitspanne erfolgten auch die Todesfälle in Frankreich. Hinzu kommt, dass es in einer Studie nur in der Nirsevimab-Gruppe zu Krankenhauseinweisungen wegen RSV-Erkrankungen kam, nicht jedoch in der Placebo-Gruppe. Auch das ist ein Hinweis auf schwerere Verläufe der passiv geimpften Babys und einen möglichen Einfluss von ADE.[10]
In der Anwendung der monoklonalen Antikörper Synagis (Palivizumab), die bis vor Kurzem noch ausschließlich Frühgeborenen und Neugeborenen mit Vorerkrankungen zur RSV-Prophylaxe gegeben wurden, kam es über 20 Jahre nie zu einer Problematik mit infektionsverstärkenden Antikörpern.[11] Die gentechnischen Veränderungen der monoklonalen Antikörper von Nirsevimab jedoch, die direkt die Fcy-Rezeptoren betreffen, haben offensichtlich Einfluss auf die Sicherheit dieser Passivimpfung.
Erreicht werden sollte mit einem neu entwickelten monoklonalen Antikörper-Produkt, dass dieses anders als das frühere Synagis den Babys nicht alle vier Wochen verabreicht werden muss. Um mit einer Injektion von Nirsevimab höhere Antikörperwerte zu erreichen, die vom Körper weniger schnell abgebaut werden, mussten die monoklonalen Antikörper entsprechend gentechnisch angepasst werden. Exakt diese Anpassungen sind es, die mit einer – mehr als theoretischen – Gefahr von infektionsverstärkenden Antikörpern einhergehen.
Weitere Beiträge zur Artikelserie „Nirsevimab“
[1] Vaccine: Strategic priorities for respiratory syncytial virus (RSV) vaccine development, 16.04.2013
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0264410X13000509
[2] American Journal of Epidemiology: Field Evaluation of a Respiratory Syncytial Virus Vaccines and a Trivalent Parainfluenza Virus Vaccine in a Pediatric Population, 04.04.1969https://academic.oup.com/aje/article-abstract/89/4/449/198872
[3] Tropical Diseases, Travel Medicine and Vaccines: The role of antibody-dependent enhancement in dengue vaccination, 01.11.2024https://tdtmvjournal.biomedcentral.com/articles/10.1186/s40794-024-00231-2
[4] Science: Infant RSV Vaccination Trouble, 10.12.2024https://www.science.org/content/blog-post/infant-rsv-vaccination-trouble
[5] Nature: A perspective on potential antibody-dependent enhancement of SARS-CoV-2, 13.07.2020https://www.nature.com/articles/s41586-020-2538-8
[6] Cureus: Behavioral and Health Outcomes of mRNA COVID-19 Vaccination: A Case-Control Study in Japanese Small and Medium-Sized Enterprises, 13.12.2024 [7] European Medicines Agency: Beyfortus Risk Management Plan, 19.04.2023https://www.ema.europa.eu/en/documents/rmp/beyfortus-epar-risk-management-plan_en.pdf [8] European Medicines Agency: Beyfortus Assessment Report, 15.09.2022 [9] European Medicines Agency: Paediatric Investigation Plan for Nirsevimab, 20.05.2022
https://www.ema.europa.eu/en/documents/pip-decision/p02432022-ema-decision-8-july-2022-acceptance-modification-agreed-paediatric-investigation-plan-nirsevimab-emea-001784-pip01-15-m04_en.pdf [10] Molecular Diversity Preservation International: Analysis of Beyfortus® (Nirsevimab) Immunization Campaign: Effectiveness, Biases, and ADE Risks in RSV Prevention, Current Issues in Molecular Biology, 18.09.2024
https://www.mdpi.com/1467-3045/46/9/617
[11] Advances in Immunology: Antibody dependent enhancement: Unavoidable problems in vaccine development, 14.10.2021https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0065277621000298