Deutschland startet derzeit seinen Versuch in der Verabreichung von Passivimpfungen gegen Erkrankungen mit Respiratorischen Synzytial-Viren (RSV) für alle Babys. Aus anderen Ländern liegen dazu bereits Erfahrungen vor. Eine vorsichtigere Herangehensweise in Deutschland wäre angebracht.
Seine Zulassung erhielt Nirsevimab (Handelsname Beyfortus) durch die Europäische Arzneimittel Agentur (EMA) bereits im Oktober 2022. Als erste europäische Länder haben Frankreich, Spanien und Luxemburg nationale Impfprogramme mit monoklonalen Antikörpern eingeführt. Nun zieht Deutschland für die RSV-Saison 2024/2025 nach. Seit September 2024 erhalten hierzulande die ersten Neugeborenen eine Passivimpfung noch in der Geburtseinrichtung, meist an ihrem 3. Lebenstag.
Nie zuvor wurden alle Säuglinge eines Jahrganges prophylaktisch mit gentechnisch veränderten Antikörpern behandelt. Mögliche Folgen dieser neuartigen Maßnahme müssen daher zwingend erfasst werden. Tatsächlich wurden erste Auffälligkeiten unter Neugeborenen schon früh aus Frankreich berichtet.
Anstieg der Säuglingssterblichkeit
Eine statistische Auswertung zeigte schon im Herbst 2023 einen unerwarteten Anstieg von Todesfällen bei Säuglingen in Frankreich. Und zwar konkret für die Monate September und Oktober und explizit für Neugeborene im Alter zwischen 2 und 6 Tagen. Im September 2023 wurde in Frankreich begonnen Nirsevimab in den Geburtskliniken einzusetzen. Zum Ende Oktober 2023 standen nicht mehr ausreichend Dosen des Produktes zur Verfügung, was möglicherweise erklärt, warum für den Monat November 2023 kein Anstieg der Todesfälle zu verzeichnen ist. Wieder deutlich über den zu erwartenden Todesfällen der Babys zeigten sich die Monate Dezember 2023 und Januar 2024, als Nirsevimab wieder im größeren Stil verimpft wurde. Im Januar 2024 wurde dann letztmalig für diese RSV-Saison Nirsevimab eingesetzt. Für die Monate Februar, März und April 2024 lag die Sterberate der Säuglinge wieder in der Norm.[1]
Die Zahlen zu Geburten und Todesfällen stammen aus den Veröffentlichungen des Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques (INSEE Daten), welches in etwa dem Statistischen Bundesamt in Deutschland entspricht. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass eine weitere statistische Auswertung nach Alter der Säuglinge über die genannten Monate hinweg keinen Anstieg der Sterblichkeit in den ersten 48 Stunden nach der Geburt zeigt.[2] Auffällig ist dieses Ergebnis vor allem, da Nirsevimab auch in Frankreich zumeist am 3. Lebenstag verabreicht wird.
Lücken von sieben Tagen
Bislang sind die Gründe für die Schwankungen der Säuglingssterblichkeit unklar. Da jedoch ein möglicher zeitlicher Zusammenhang sowohl mit dem Impfzeitpunkt (3. Lebenstag) als auch der Produktknappheit (November 2023) gegeben ist, wurden in Frankreich schon früh Forderungen nach konkreten Untersuchungen laut. Denn es stellt sich die Frage, warum unter Realbedingungen wie hier in Frankreich mit Start der Impfkampagne ein signifikanter Anstieg an Todesfällen unter Neugeborenen zu verzeichnen ist, unter Studienbedingungen eine derartige Problematik jedoch nicht auftrat?
Eine mögliche Erklärung findet sich in zwei Studien, die zum einen in Frankreich, zum anderen in den USA durchgeführt wurden.[3][4] In beiden Veröffentlichungen zur Wirksamkeit und Sicherheit von Nirsevimab bei Säuglingen finden sich Angaben zu den von den Studien ausgeschlossenen Fällen: Säuglinge, die bis zu 7 Tage nach Verabreichung von Nirsevimab ins Krankenhaus eingeliefert wurden, wurden von den Studien ausgeschlossen. In der Folge wurden schwere Erkrankungen oder schwere Nebenwirkungen, die einen Krankenhausaufenthalt nötig machten, nicht in den Studien abgebildet, wenn sie unmittelbar oder innerhalb der ersten Woche nach Passivimpfung erfolgten. Das bedeutet schlicht: Insbesondere für den Zeitraum der kritischen Tage zwischen dem 2. und 6. Tag nach Verabreichung von Nirsevimab gibt es mit diesen Studien überhaupt keine Daten.
Begründet wird der Ausschluss innerhalb der ersten sieben Tage nach Impfung in der französischen Studie mit der Inkubationszeit von RSV. Die Annahme dahinter ist demnach, das Baby hätte sich bereits vor der Impfung mit Nirsevimab mit RSV infizieren können. Bedenkt man jedoch, dass es sich in der Regel um Neugeborene an ihrem 3. Lebenstag handelt, ist eine Infektion ausgerechnet innerhalb dieser drei ersten Tage nach Geburt nicht sehr wahrscheinlich. In der US-amerikanischen Studie wird der Ausschluss-Zeitraum von sieben Tagen lediglich genannt, aber nicht begründet.
Bedenken um die Aussagekraft der Studien
Kurz bevor mit der standardmäßigen Anwendung von Nirsevimab in Frankreich begonnen wurde, gab es einzelne kritische Stimmen innerhalb der französischen Gesundheitsbehörde. So wurde in einer Sitzung zur Abstimmung über die Verwendung von Nirsevimab auf nationaler Ebene der berechtigte Einwand eingebracht, dass die Zulassungsstudien zumeist mit älteren Babys durchgeführt wurden.[5] Auf der einen Seite wird das Produkt innerhalb der RSV-Saison von Oktober bis März den Neugeborenen bereits am dritten Lebenstag verabreicht. Auf der anderen Seite sagen die Studien zur Zulassung des Produktes kaum etwas über die Wirksamkeit und Sicherheit in diesem extrem jungen Alter aus – war der Großteil der Babys in den Studien doch schon über drei Monate alt. Ein deutlicher Anteil sogar schon sechs Monate alt. Konkret lag das Durchschnittsalter der Probanden bei 2,6 Monaten [6] bzw. lediglich 12% der Probanden waren sieben Tagen oder jünger.[7] Um eine Aussage zur Sicherheit für Neugeborene von wenigen Tagen zu treffen, sind diese Studienpopulationen schlicht als zu klein zu bewerten.
Offene Fragen zur Wirksamkeit
Nicht zuletzt gehört auch die Effektivität von Nirsevimab für Neugeborene dringend auf den Prüfstand. So findet sich in einer der Zulassungsstudien eine Aussage der Hersteller AstraZeneca und Sanofi, die verblüfft: Eine geringere Wirksamkeit wurde bei Säuglingen im Alter von drei Monaten oder jünger sowie bei Säuglingen unter 5 kg beobachtet.[6] Konkret bedeutet dies, dass für alle kurz vor und in der RSV-Saison geimpften Neugeborene von wenigen Tagen eine geringere Wirksamkeit für einen RSV-Schutz besteht, als in den Studien für ältere Babys berechnet wurde. Auch für alle Frühchen und vorerkrankte Säuglinge mit Untergewicht gilt diese geringere Wirksamkeit.
Für Erfahrungswerte zur Wirksamkeit von Nirsevimab hingegen lohnt ein Blick ins Nachbarland kaum, da die Ergebnisse einer umfangreichen Auswertung aus französischen Kinderkliniken der RSV-Saison 2023/2024 wenig aussagefähig sind. Von mehr als der Hälfte (52%) der in Krankenhäuser eingelieferten Babys lagen keine vollständigen Daten vor. Somit wurden mehr als die Hälfte der Fälle von der Berechnung zur Wirksamkeit einer RSV-Passivimpfung ausgeschlossen. Oder anders ausgedrückt: Die errechnete Wirksamkeit zur Verhinderung von schweren Fällen von RSV-Erkrankungen von rund 80% basiert lediglich auf 319 von insgesamt 668 ins Krankenhaus eingelieferten Fällen.[8] Hier ist von einer deutlichen Verzerrung der tatsächlichen Zahlen auszugehen.
Für eine routinemäßige Verabreichung von Nirsevimab für alle Babys – unabhängig vom Geburtsalter und vom Gesundheitszustand – gibt es sowohl auf der Seite des Nutzens als auch auf der Seite des Risikos gleich eine ganze Reihe ungeklärter Aspekte. Bei derartig gravierenden Risiken, die Todesfälle von Neugeborenen miteinschließen, müsste der zu erwartende Nutzen immens sein, um ein solches Vorgehen überhaupt zu rechtfertigen. Ein solcher Nutzen ist aber gänzlich nicht belegt.
Weitere Artikel in dieser Beitragsserie zu „Nirsevimab“:
https://impfentscheidung.online/artikelreihe-nirsevimab-passivimpfung-zur-vorbeugung-von-rsv-infektionen/
[1] MDPI: Analysis of Beyfortus® (Nirsevimab) Immunization Campaign: Effectiveness, Biases, and ADE Risks in RSV Prevention, Current Issues in Molecular Biology, 18.09.2024
https://www.mdpi.com/1467-3045/46/9/617
[2] ResearchGate: First results in France from Beyfortus injection in newborns (monoclonal antibody against RSV bronchiolitis), 26.12.2023 [3] The New England Journal of Medicine: Nirsevimab and Hospitalization for RSV Bronchiolitis, 10.07.2024https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2314885 [4] Centers for Disease Control and Prevention: Early Estimate of Nirsevimab Effectiveness for Prevention of Respiratory Syncytial Virus–Associated Hospitalization Among Infants Entering Their First Respiratory Syncytial Virus Season — New Vaccine Surveillance Network, October 2023–February 2024, Morbidity and Mortality Weekly Report, 07.03.2024
https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/73/wr/mm7309a4.htm?s_cid=mm7309a4_w
[5] Haute Autorité de Santé: Commission de la Transparence: BEYFORTUS 50 – 100 mg (nirsévimab) (CT-20356) SANOFI PASTEUR EUROPE – Examen – Inscription, 19.07.2023 [6] The New England Journal of Medicine: Nirsevimab for Prevention of RSV in Healthy Late-Preterm and Term Infants, 02.03.2022https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2110275
[7] The New England Journal of Medicine: Nirsevimab for Prevention of Hospitalizations Due to RSV in Infants, 27.12.2023 [8] Hyper Articles en Ligne: Nirsevimab effectiveness against cases of respiratory syncytial virus bronchiolitis hospitalised in paediatric intensive care units in France, September 2023 -January 2024, 11.06.2024