Nirsevimab: Schwere allergische Reaktionen als Warnhinweis im Beipackzettel

Nirsevimab wurde bereits im Oktober 2022 europaweit zur Anwendung bei Neugeborenen zugelassen. Exakt zwei Jahre später wurde der Beipackzettel um die Gefahr einer lebensbedrohlichen Nebenwirkung ergänzt. Tatsächlich sind anaphylaktische Reaktionen ein bekanntes Problem bei der Gabe von Antikörpern. 

Seit Jahrzehnten besteht das Wissen, dass die Verabreichung von monoklonalen Antikörpern schwere allergische Reaktionen auslösen kann.[1] Eine lebensbedrohliche Akutreaktion des Immunsystems zeigt sich dabei in Form eines anaphylaktischen Schocks (Anaphylaxie). Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass die Studien zur Zulassung von Nirsevimab so durchgeführt wurden, dass zu der Gefahr von anaphylaktischen Schocks keine Aussagen getroffen werden konnten. Denn: Dazu reichte die gewählte Anzahl der Studienteilnehmer nicht aus.

FDA verlangte Post Marketing Studien 

In dem Wissen um die Gefahr schwerer Überempfindlichkeitsreaktionen wurden international bei der Zulassung der monoklonalen Antikörper Nirsevimab sehr unterschiedliche Vorgehen gewählt

In den USA hat die FDA (Food and Drug Administration) mit der Zulassung die Durchführung einer sogenannten Post Marketing Studie verlangt, um unter anderem die Gefahr von Anaphylaxien für die Säuglinge bewerten zu können. Es handelt sich dabei um eine Beobachtungsstudie, die nach der Marktzulassung eines Arzneimittels durchgeführt wird. Damit sollen der Nutzen und die Risiken einer Anwendung in der medizinischen Praxis geprüft werden – erstmals außerhalb der eng definierten Bedingungen seitens des Herstellers. Alle Familien, deren Neugeborene in dieser Phase Nirsevimab erhalten haben, hatten zu dem Zeitpunkt jedoch keinerlei Kenntnisse um die Gefahr schwerer allergischer Reaktionen. Weder der Beipackzettel in der Umverpackung noch die Fachinformation als ausführlichstes Dokument zum Produkt enthielten dazu irgendeinen Hinweis.

Erst im Februar 2024 wurde die US amerikanische Fachinformation von Nirsevimab (Handelsname Beyfortus) um einen Warnhinweis ergänzt.[2] Die Ergebnisse der erwähnten Post Marketing Studie wurden nicht öffentlich gemacht, jedoch ist eine Bewertung der Schadensmeldungen von Nirsevimab als Arzneimittel einsehbar.[3] Da es sich bei Nirsevimab um keinen Impfstoff, sondern ein Arzneimittel handelt, müssen Nebenwirkungen nicht an die offizielle Meldestelle für Impfkomplikation (Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS)) gemeldet werden, sondern an die offizielle Meldestelle für Arzneimittel-Nebenwirkungen (FDA Adverse Event Reporting System (FAERS)). Das hat in der Vergangenheit bei Ärzten und Eltern für deutliche Verwirrung gesorgt, da die monoklonalen Antikörper wie eine Impfung injiziert werden und umgangssprachlich auch als eine solche bezeichnet werden. Es gibt Berichte über zahlreiche Nebenwirkungs-Meldungen, die bei VAERS unspezifisch in freier Kategorie als „RSV Impfstoff“ oder „Impfstoff unbekannt“ eingingen, konkret aber Nirsevimab betreffen. Damit muss leider von einer Untererfassung der Nebenwirkungen bei FAERS ausgegangen werden, wenn ein Teil der Meldungen in einer falschen Datenbank landen. Und dennoch haben die gemeldeten Nebenwirkungen der FAERS-Datenbank ausgereicht, um ein Sicherheitssignal zu erkennen, wodurch eine Ergänzung des Beipackzettels um folgenden Warnhinweis nötig wurde (deutsche Übersetzung).

Schwerwiegende Überempfindlichkeitsreaktionen wurden nach der Verabreichung von BEYFORTUS berichtet. (unter 5.1 Überempfindlichkeitsreaktionen einschließlich Anaphylaxie)[2]

Als Überempfindlichkeitsreaktion (Hypersensitivität) bezeichnet man in der Medizin eine Vielzahl von Symptomen, die durch überschießende Immunreaktionen ausgelöst werden. Umgangssprachlich wird dies meist als allergische Reaktion beschrieben.

EMA lehnte eine besondere Beobachtung ab  

Vor dem exakt gleichen Hintergrund hat sich die europäische Arzneimittel Agentur (EMA) für einen gänzlich anderen Weg entschieden, mit dem Risiko allergischer Schocks umzugehen: Im Rahmen der Zulassung von Nirsevimab für den europäischen Markt lehnte die EMA eine genauere Überwachung der Gefahr anaphylaktischer Reaktionen bei Neugeborenen kategorisch ab. Mit der Begründung, dass sich die Babys zum Zeitpunkt der Injektion von Nirsevimab in einer medizinischen Einrichtung (Krankenhaus oder Praxis) befänden und Ärzte wie Pfleger mit dem medizinischen Prozedere in derart lebensbedrohlichen Situationen vertraut seien. Mit dieser Argumentation wurden selbst schwerwiegende allergische Reaktionen nicht in den sogenannten Risiko-Management-Plan aufgenommen, der den Hersteller zu einer weiteren Überprüfung seines Produktes in Punkto Sicherheit verpflichtet hätte.[4]

Seit Oktober 2024 schließlich ist auch in den europäischen Fachinformationen ein besonderer Warnhinweis zu Überempfindlichkeitsreaktionen einschließlich Anaphylaxie zu finden.[5] Das Robert Koch-Institut geht in seinen Informationsmaterialien noch mit keinem Wort darauf ein und auch die Ständige Impfkommission (STIKO) hat die Gefahr in ihrer ersten Bewertung gänzlich unerwähnt gelassen.[6][7][8] Es muss daher davon ausgegangen werden, dass weder Mediziner noch Eltern aktuell über dieses Risiko aufgeklärt werden.

Dramatisch ist diese Situation vor allem, weil alle Neugeborenen Nirsevimab bei „Entlassung aus der Geburtseinrichtung“ erhalten sollen.[9] Damit besteht eine reale Gefahr, dass sich allergische Reaktionen des Babys noch auf dem Heimweg oder in der ersten Stunde zu Hause zeigen. Wo kein medizinisches System unmittelbar greifbar ist – anders als von der EMA vorgesehen – und wo die Eltern auf sich gestellt sind. Die meisten allergischen Überempfindlichkeitsreaktionen äußern sich innerhalb von wenigen Minuten, einige Reaktionen jedoch laufen innerhalb weniger Stunden ab. In solchen Fällen ist es entscheidend, dass Eltern über die Risiken des Produktes vollständig aufgeklärt werden. Anaphylaktische Reaktionen erfordern immer eine Notfallbehandlung.

Ähnlich dem Sicherheitsprofil von Synagis 

International wurde das neue Antikörper-Produkt Nirsevimab von Anfang an mit dem älteren Antikörper-Produkt Palivizumab (Handelsname Synagis) verglichen. Zur Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit wurde Nirsevimab zumeist nicht gegen ein wirkungsloses Placebo getestet, sondern gegen Palivizumab. So finden sich immer wieder die Hinweise, dass das Sicherheitsprofil von Nirsevimab dem von Palivizumab ähnelt.[10] Das neue Produkt sei in etwa so sicher zu bewerten, wie das alte Produkt und ist somit für die Anwendung an Neugeborenen zugelassen (EMA) und empfohlen (STIKO). Genauer betrachtet jedoch finden sich in der Fachinformation von Palivizumab unmissverständlich folgende Hinweise:

Die schwerwiegendsten Nebenwirkungen, die unter Palivizumab auftreten, sind Anaphylaxie und andere akute Überempfindlichkeitsreaktionen.

sowie

Über allergische Reaktionen, einschließlich sehr seltener Fälle von Anaphylaxie und anaphylaktischem Schock, nach der Verabreichung von Palivizumab wurde berichtet. In einigen Fällen wurde über Todesfälle berichtet.[11]

Einzeldosis und Dreifachdosis 

Durchweg wird Nirsevimab damit beworben, dass es sich lediglich um eine Einzeldosis von monoklonalen Antikörpern handelt. Damit soll eine Abgrenzung zum früheren Produkt Synagis gezogen werden, welches mehrfach im Abstand von jeweils vier Wochen injiziert werden musste. Die Gefahr einer anaphylaktischen Reaktion oder einer anderen Nebenwirkung bestünde bei den meisten gesunden Babys mit Nirsevimab somit nach einer Injektion. Babys mit Vorerkrankungen, extreme Frühchen oder Kinder nach Herzoperationen beispielsweise sollen allerdings zusätzlich zu ihrer Einzeldosis in ihrer ersten RSV-Saison noch zwei weitere Dosen in ihrer zweiten RSV-Saison erhalten. Damit erhöht sich die Gefahr einer lebensgefährlichen Anaphylaxie für diese Kinder auf das Dreifache.

Aktuell hat sich die Zielgruppe der RSV-Prophylaxe nicht nur von den besonders gefährdeten Babys wie beispielsweise extremen Frühchen zu allen Babys erweitert, sondern es folgte auch eine Indikationserweiterung von der Anwendung in der ersten RSV-Saison bis in die zweite RSV-Saison.[12] Auf den immens erhöhten Absatzmarkt hat der Hersteller mit einer Preisreduzierung um knapp 900 EUR pro Dosis reagiert – Sanofi kalkuliert seinen Verdienst nun über die Masse von Kindern.[13]

Weitere Artikel der Beitragsserie Nirsevimab:
https://impfentscheidung.online/artikelreihe-nirsevimab-passivimpfung-zur-vorbeugung-von-rsv-infektionen/


[1] Experimental and Therapeutic Medicine: Hypersensitivity reactions to monoclonal antibodies: Classification and treatment approach (Review), 03.07.2021 

https://www.spandidos-publications.com/10.3892/etm.2021.10381

[2] Food and Drug Administration: Beyfortus Drug Package Insert, Highlights of Prescribing Information, 02/2024 

https://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2024/761328s007lbl.pdf

[3] Food and Drug Administration: Potential Signals of Serious Risks/New Safety Information Identified by the FDA Adverse Event Reporting System (FAERS), Quarterly Report, September – December 2023, 15.03.2024 

https://www.fda.gov/drugs/fdas-adverse-event-reporting-system-faers/october-december-2023-potential-signals-serious-risksnew-safety-information-identified-fda-adverse

[4] European Medicines Agency: European Union Risk Management Plan (EU RMP) for BEYFORTUS™ (Nirsevimab), Version 2.3, 19.04.2023, online seit 07.10.2024 

https://www.ema.europa.eu/en/documents/rmp/beyfortus-epar-risk-management-plan_en.pdf

[5] European Medicines Agency: Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels, Beyfortus, Deutsch, 16.10.2024 

https://www.ema.europa.eu/de/documents/product-information/beyfortus-epar-product-information_de.pdf

[6] Robert Koch-Institut: Antworten auf häufig gestellte Fragen – RSV-Prophylaxe mit Nirsevimab (Beyfortus von Sanofi) bei Neugeborenen und Säuglingen, Wie sicher ist die RSV-Prophylaxe mit Beyfortus (Nirsevimab)?, 22.10.2024 

https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/RSV-Prophylaxe/FAQ_Liste_gesamt.html

[7] Robert Koch-Institut: RSV-Prophylaxe mit Nirsevimab bei Neugeborenen und Säuglingen, RKI-Faktenblatt RSV-Prophylaxe, 16.10.2024 

https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Materialien/Faktenblaetter/RSV-Prophylaxe.pdf

[8] Robert Koch-Institut: STIKO: Prophylaxe von RSV-Erkrankungen mit Nirsevimab bei Neugeborenen und Säuglingen, Epidemiologisches Bulletin 26-2024, 27.06.2024  

https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2024/Ausgaben/26_24.pdf?__blob=publicationFile

[9] Robert Koch-Institut: Empfehlungen der Ständige Impfkommission, Impfkalender: Impfungen und passive Immunisierungen, 01.08.2024 

https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Materialien/Downloads-Impfkalender/Impfkalender_Deutsch.pdf?__blob=publicationFile

[10] Molecular Diversity Preservation International: Comprehensive Summary of Safety Data on Nirsevimab in Infants and Children from All Pivotal Randomized Clinical Trials, Pathogens, 13.06.2024 

https://www.mdpi.com/2076-0817/13/6/503

[11] European Medicines Agency: Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels, Synagis, Deutsch, 11.10.2023 

https://www.ema.europa.eu/de/documents/product-information/synagis-epar-product-information_de.pdf

[12] European Medicines Agency: Summary of Opinion (post authorization), Beyfortus / Nirsevimab, Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP), 27.06.2024 

https://www.ema.europa.eu/en/documents/smop/chmp-post-authorisation-summary-positive-opinion-beyfortus-ii-05_en.pdf

[13]  Apotheke AdHoc: RSV-Impfstoff: Sanofi senkt Preis für Beyfortus, 16.05.2024

https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/sanofi-senkt-preis-fuer-beyfortus