Deutschlandweit steigt die Zahl der FSME-Risikogebiete. Per Definition kommt es zu einer fortlaufenden Summierung solcher Gebiete. Einmal als Risikogebiet eingestuft, bleibt dieser Status erhalten. Interessanterweise weicht dabei die Definition des deutschen Robert Koch-Institutes deutlich von der Definition der Weltgesundheitsbehörde ab.
Durch Zeckenstiche können rund 50 Krankheiten auf den Menschen übertragen werden. Am bekanntesten aus der langen Liste dieser übertragbaren Infektionskrankheiten sind die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) und die Borreliose. Da FSME zu den impfbaren Erkrankungen gehört, entsprechende Impfstoffe also zur Verfügung stehen, definiert das Robert Koch-Institut (RKI) sogenannte FSME-Risikogebiete. Für Personen, die in einem solchen Risikogebiet wohnen, arbeiten oder reisen, wird ein erhöhtes FSME-Infektionsrisiko angenommen, welches laut RKI präventive Maßnahmen begründet. Vor diesem Hintergrund hat die Ständige Impfkommission (STIKO) eine FSME-Impfempfehlung für alle Personen in FSME-Risikogebieten ausgesprochen.
Ein vergleichbares Vorgehen für Borreliose besteht nicht, da kein Borreliose-Impfstoff auf dem Markt ist. Ein solcher befindet sich derzeit in der klinischen Testphase und wird voraussichtlich als ein mRNA-Impfstoff (mRNA-1982 und mRNA-1975 von Moderna) und als ein Protein-Impfstoff (VLA15 von Pfizer und Valneva) angeboten werden.[1][2] Andere präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Zeckenstichen oder zur Bekämpfung von Zeckenpopulationen werden von den deutschen Gesundheitsbehörden weit weniger verfolgt.
Geänderte Definition erzeugt mehr Risikogebiete
Bis zum Jahr 2007 wurden für die Einschätzung des Risikos, nach einem Zeckenstich an FSME zu erkranken, alle Regionen deutschlandweit in Nichtrisikogebiete, Risikogebiete und Hochrisikogebiete unterschieden. Zu einem Risikogebiet wurde ein Landkreis oder ein Stadtkreis ernannt, sobald in 5 zusammenhängenden Jahren mindestens 5 Fälle oder innerhalb eines Jahres mindestens 2 Fälle von FSME bekannt wurden. Zu einem Hochrisikogebiet wurde ein Kreis beim Auftreten von mindestens 25 Fällen von FSME in 5 zusammenhängenden Jahren erklärt.[3]
Seit 2007 werden die absoluten Fallzahlen durch Inzidenzen ersetzt. Gleichzeitig wurde die Unterscheidung in Risikogebiete und Hochrisikogebiete aufgegeben. Nun wird ein Kreis als Risikogebiet definiert, wenn die Inzidenz entweder im Kreis selbst oder in der Kreisregion den festgelegten Grenzwert von 1 FSME-Erkrankung pro 100.000 Einwohner pro 5 Jahre übersteigt.[4] Zusätzlich werden Kreise auch dann zu Risikogebieten gezählt, wenn es im Kreis selbst geringe FSME-Inzidenzen gibt, alle angrenzenden Kreise jedoch hohe FSME-Inzidenzen angeben. Allein durch diese Neudefinition sind im Jahr 2007 insgesamt 33 Stadt- und Landkreise neu als Risikogebiet aufgenommen worden.[5]
Bleibender Status eines Risikogebietes
Vom Jahr 2006 (99 Kreise) über die Neudefinition im Jahr 2007 (132 Kreise) bis heute (180 Kreise) ist ein kontinuierlicher Anstieg der ausgewiesenen Risikogebiete zu beobachten.[6] Begründet wird die Zunahme der Risikogebiete mit dem Klimawandel, konkret mit milderen Wintern und einer immer nördlicheren Ausbreitung der FSME-Viren in Zecken.
Entscheidend für den Anstieg ist jedoch auch die sogenannte Übergangsregelung im Rahmen der Neudefinition: „Als Übergangsregelung wurde im Jahr 2007 beschlossen, dass keines der bis zum Jahr 2006 definierten bestehenden Risikogebiete den Risikostatus verlieren sollte, auch wenn dort die Inzidenz nicht signifikant über dem neuen Grenzwert liegen sollte.“[7] Im Jahr 2011 schließlich wurde im RKI entschieden, dass „ein Kreis für einen Zeitraum von mindestens 20 Jahren seinen Status als Risikogebiet behalten sollte“.[8] Das heißt, es ist über zwei Jahrzehnte hinweg gar nicht möglich, dass ein Kreis seinen einmal erworbenen Status als Risikogebiet wieder abgeben kann, selbst wenn über viele Jahre hinweg dort keinerlei FSME-Fälle mehr aufgetreten sind. Somit wurden von den heute 180 Risikogebieten nahezu alle Kreise „seit 1984 mindestens einmal als Infektionsort genannt.“[6] Über das reale Risiko, sich in einem der Gebiete heute mit FSME zu infizieren, sagen diese Zahlen allerdings wenig aus.
Grell eingefärbte Deutschlandkarten
Immer größer werdende Risikogebiete werden als eine immer größer werdende Gefahr durch Zecken wahrgenommen. Dieses Gefühl der persönlichen Gefährdung kann durch graphisch aufgearbeitete Landkarten noch gesteigert werden. Offiziell veröffentlicht das RKI die jeweils aktuelle Deutschlandkarte der FSME-Risikogebiete.[9] In Verwendung, gerade in Arztpraxen und Apotheken, sind auch häufig FSME-Karten der Impfstoffhersteller.[10] Tendenziell wird hier die Gefährdung durch Zecken in dramatischer Weise übertrieben, so dass selbst das RKI betont: „Neben der vom RKI erstellten Karte der Risikogebiete kursieren „FSME-Karten“ anderer Urheber, in der deutlich mehr Kreise eingefärbt sind.“[4] Letztendlich sollen Menschen mit grell markierten Risikogebieten und übertrieben groß dargestellten Zecken zur Akzeptanz von FSME-Impfungen bewegt werden.
Vorsichtigere Kalkulation der Weltgesundheitsorganisation
Ein völlig anderes Bild ergibt sich, wenn die Definition von FSME-Risikogebieten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet wird. Laut WHO wird eine Region zum Risikogebiet erklärt, wenn es zu 5 oder mehr Fällen von FSME pro 100.000 Einwohner pro Jahr kommt.[11] Damit setzt die WHO eine fünfmal niedrigere Gefährdung an als das deutsche RKI, um regional eine FSME-Impfempfehlung auszusprechen. Würde hierzulande die WHO-Definition genutzt, bliebe nur ein Bruchteil der heutigen 180 Kreise als Risikogebiete übrig. Einer flächendeckenden FSME-Impfempfehlung, wie die STIKO sie seit Jahren ausspricht, würde damit jegliche Basis fehlen.
Auch in einer Studie, für die europaweit die Definition der WHO für FSME-Risikogebiete zur Anwendung kam, zeigten sich die immensen Abweichungen. Für das Jahr 2020 wurden auf dieser Grundlage für Deutschland lediglich 7 Risikogebiete identifiziert, während das RKI für das gleiche Jahr 169 Risikogebiete angibt.[12][13]
Eine Ausweitung der FSME-Risikogebiete zieht möglicherweise eine gesteigerte Nachfrage nach FSME-Impfungen nach sich. Ein Interesse der Industrie an einem noch größeren Absatzmarkt für ihre Produkte ist in jedem Fall gegeben. Für eine möglichst realistische – und Industrie-unabhängige – Einschätzung der Gefahr an FSME zu erkranken, gilt daher: Letztlich ist alles eine Frage der Definition!
[1] Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.: mRNA-Impfstoffe für Schutzimpfungen, 07.06.2024 [2] VALNEVA: Pfizer und Valneva schließen Rekrutierung der Phase 3 VALOR-Studie für Lyme Borreliose-Impfstoffkandidat VLA15 ab, 04.12.2023 [3] Robert Koch-Institut: Indikationseinschränkung für den FSME-Impfstoff TicoVac®, Epidemiologisches Bulletin 26/2000, 30.06.2000 [4] Robert Koch-Institut: FSME: Risikogebiete in Deutschland, Bewertung des örtlichen Erkrankungsrisikos der FSME, Epidemiologisches Bulletin 17/2008, 25.04.2008
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2008/Ausgaben/17_08.pdf?__blob=publicationFile
[5] Arznei-Telegramm: Zur FSME-Impfung, 07-2007https://www.arznei-telegramm.de/html/2007_07/0707070_03.html
[6] Robert Koch-Institut: FSME-Risikogebiete in Deutschland, Epidemiologisches Bulletin 9/2024, 29.02.2024https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2024/Ausgaben/09_24.pdf?__blob=publicationFile
[7] Robert Koch-Institut: FSME: Risikogebiete in Deutschland, Bewertung des örtlichen Erkrankungsrisikos, Epidemiologisches Bulletin 21/2012, 29.05.2012https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2012/Ausgaben/21_12.pdf?__blob=publicationFile
[8] Robert Koch-Institut: FSME: Risikogebiete in Deutschland, Bewertung des örtlichen Erkrankungsrisikos, Epidemiologisches Bulletin 18/2013, 06.05.2013https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2013/Ausgaben/18_13.pdf?__blob=publicationFile
[9] Robert Koch-Institut: FSME-Risikogebiete in Deutschland, 29.01.2024https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/F/FSME/Karte_FSME.pdf?__blob=publicationFile
[10] Bavarian Nordic GmbH: FSME-RISIKOGEBIETE Gefahr durch Zeckenstiche, abgerufen am 12.06.2024 [11] World Health Organization: Vaccines against tick-borne encephalitis: WHO Position Paper, Weekly Epidemiological Record, No 24, 2011https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/241770/WER8624.PDF
[12] Eurosurveillance: Spatiotemporal spread of tick-borne encephalitis in the EU/EEA, 2012 to 2020, 16.03.2023https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2023.28.11.2200543
[13] Robert Koch-Institut: FSME: Risikogebiete in Deutschland (Stand Januar 2021), Epidemiologisches Bulletin 9/2021, 04.03.2021https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/09_21.pdf?__blob=publicationFile