Grippe-Impfung für alle Kinder – wieder in der Diskussion der STIKO

In Deutschland besteht eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) zu jährlichen Grippe-Impfungen für Kinder mit bestimmten Vorerkrankungen. Für gesunde Kinder hingegen besteht keine Grippe-Impfempfehlung. Aktuell wird wieder darüber diskutiert, dies zu ändern.

Bereits Anfang 2020 wurde innerhalb der STIKO über eine allgemeine Grippe-Impfempfehlung für Kinder diskutiert. Eine Rolle spielte dabei die Überlegung, durch eine generelle Empfehlung für Kinder möglicherweise ältere Personen indirekt zu schützen und so einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems während der Corona-Pandemie vorzubeugen.[1]

Damit spiegelt sich hier die gleiche Argumentation wider, die auch zur allgemeinen COVID-19-Impfempfehlung für Kinder angebracht wurde. Mittlerweile ist bewiesen, dass weder Grippe- noch COVID-19-Impfungen einen reellen Fremdschutz leisten können, eine Überlastung des Gesundheitssystems selbst in den Hochphasen der Pandemie nicht bestand und es moralisch und medizinisch abzulehnen ist, die Gesundheit einer Personengruppe gegen die Gesundheit einer anderen Personengruppe abzuwägen.

Allen Kindern Grippe-Impfungen aufzubürden, um damit nicht primär sie selbst, sondern möglicherweise ältere Personen vor einer Grippe zu schützen, wurde von der STIKO im Jahr 2020 tatsächlich abgelehnt. Begründet wurde die Entscheidung auch mit den verpflichteten Kontaktbeschränkungen im ersten Jahr der Pandemie, denn: „Die Schutzeffekte für die Gemeinschaft durch Impfung von Nicht-Risikogruppen werden aufgrund von kontaktreduzierenden Maßnahmen im Rahmen der COVID-19-Bekämpfung von begrenzter Wirkung sein.“[2]

Geänderte Bedingungen nach den Corona-Maßnahmen

Mittlerweile sind die meisten Corona-Maßnahmen ausgelaufen. Die genannte Begründung der STIKO, sich gegen eine Grippe-Impfempfehlung von Nicht-Risikogruppen (auch gesunden Kindern) auszusprechen, ist damit hinfällig. Wie würde die STIKO jetzt entscheiden?

Im Protokoll der STIKO-Sitzung aus dem Frühjahr 2023 findet sich erneut weit oben in der Rangfolge der priorisierten Themen die „Standard-Influenza-Impfung für Kinder“.[3] Die Frage nach Grippe-Impfungen für alle Kinder wird zweifelsohne bei der STIKO-Sitzung im Juli 2023 intensiv diskutiert worden sein. Das Protokoll der Sitzung wird jedoch erst im November 2023 veröffentlicht.

International unterschiedliche Impf-Strategien

In den USA stehen Grippe-Impfungen schon seit vielen Jahren im Impfkalender für alle Kinder ab sechs Monaten. Innerhalb Europas sind es Länder wie Polen, Finnland oder Slowenien, die dies ebenfalls für alle Kinder zwischen sechs Monaten und fünf bzw. elf Jahren empfehlen. Irland und Frankreich haben sich für eine Empfehlung für alle Kinder zwischen zwei und elf Jahren ausgesprochen. Die meisten europäischen Länder jedoch verfahren wie Deutschland und geben eine Empfehlung nur für Risikogruppen ab sechs Monaten ab. Innerhalb der Europäischen Union gibt es neuerdings genau ein Land, welches die Grippe-Impfung durchweg für alle Babys, Kinder und Jugendlichen empfiehlt: Österreich hat seine Grippe-Impfempfehlungen für die Saison 2023/2024 deutlich ausgeweitet.[4]

Die unterschiedlichen Impfempfehlungen werden mit unterschiedlichen Strategien zur Eindämmung von Grippe-Wellen begründet. Deutschland hält sich bis heute an die Strategie, eine Impfempfehlung nur für die Personen auszusprechen, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. Andere Strategien werden damit begründet, dass mit den Impfungen aller Personengruppen die Gesamtzirkulation der Influenza-Viren eingedämmt werden soll. Hier wird den Grippe-Impfstoffen ein Beitrag zu einem Fremdschutz zugesprochen, der faktisch kaum zu begründen ist. So betont auch die STIKO, dass die Datenlage zum „Gemeinschaftsschutz durch eine Kinderimpfung“ völlig unzureichend ist.

Jedes Jahr wieder ungewisse Wirksamkeiten

Die Wirksamkeit der saisonalen Grippe-Impfstoffe schwankt in hohem Maße. Da sich das Verhältnis der zirkulierenden Influenza-Virenstämme durch Mutationen und Reisetätigkeiten ständig ändert, werden Grippe-Impfstoffe jährlich neu zusammengestellt. Ob die gewählte Zusammensetzung des jeweiligen Impfstoffes nach der Produktion auch den tatsächlich vorkommenden Virenstämmen entspricht, kann frühestens zu Beginn der Saison bewertet werden. Zum typischen Zeitpunkt der Impfungen im Herbst können Gesundheitsbehörden und Ärzte über die Wirksamkeit der aktuellsten Grippe-Impfstoffe daher lediglich spekulieren. Wird die Impfeffektivität im Nachhinein errechnet, ergeben sich je nach betrachteter Saison, Region und Altersgruppe stark unterschiedliche Wirksamkeiten in einer breiten Spanne von 2% bis 90%.[5][6][7] Auch dabei sind immer wieder errechnete Impfeffektivitäten im negativen Bereich, die gar auf eine Erhöhung des Risikos an Grippe zu erkranken hinweisen. Bei einer derartigen Bandbreite von wenig effektiven, nicht effektiven bis hin zu Risiko-verstärkenden Grippe-Impfungen auf einen Gemeinschaftsschutz zu hoffen, erstaunt doch sehr.

In Erwartung auf eine Entscheidung der STIKO

Trotz geringer Notwendigkeit und geringer Wirksamkeit wird mittlerweile auffallend häufig zu Grippe-Impfungen von gesunden Kindern veröffentlicht.[8] Für Arztpraxen und Impfstoffhersteller stellt die Grippe-Impfung mit ihren jährlichen Wiederholungen eine der lukrativsten Impfungen dar – ein Interesse zu einer Impfempfehlung für alle Kinder besteht von dieser Seite zweifellos. Im November 2023 tagt die STIKO erneut, entsprechend zeitnah sind Veröffentlichungen des Robert-Koch-Institutes und der STIKO zu erwarten.

Einflussnahme der Industrie auf die STIKO

Die Struktur der Ständigen Impfkommission ist so aufgebaut, dass die Formulierung konkreter Fragestellungen und die Auswertung entsprechender Studien – also die gesamte thematische Sacharbeit – in sogenannten STIKO-Arbeitsgruppen stattfindet. Die Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen werden zweimal jährlich in die STIKO-Sitzung eingebracht. Zu den Sitzungen der Kommission sind zwar nur die aktuell berufenen STIKO-Mitglieder zugelassen, an den Arbeitsgruppen nehmen jedoch auch externe Sachverständige teil. Eine Person, die aus einer bestimmten Empfehlung der STIKO einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt, muss seine Interessenskonflikte darlegen und nimmt am entsprechenden Tagesordnungspunkt der Sitzung nicht teil. Diese Regelung soll Verflechtungen zur Industrie möglichst unterbinden – greift jedoch erstaunlicherweise nicht in den Arbeitsgruppen.[9] Ein wirtschaftlicher Einfluss kann somit durchaus in den Arbeitsgruppen ausgeübt werden, da die STIKO nahezu immer dem Vorschlag der jeweiligen Arbeitsgruppe folgt. Für externe Sachverständige oder STIKO-Mitglieder mit Interessenskonflikten eine einfache Möglichkeit, Einfluss auszuüben, auch ohne an den entsprechenden Tagesordnungspunkten der Sitzungen teilzunehmen.

Konkret in der Arbeitsgruppe Influenza sind aktuell fünf STIKO Mitglieder vertreten, wovon drei dieser Personen noch vor wenigen Jahren Interessenskonflikte in Bezug auf Grippe-Impfstoffe angegeben haben (Martin Terhardt, Sabine Wicker und Fred Zepp).[10][11] Auch wenn entsprechend der STIKO Geschäftsordnung derartige Interessenskonflikte nach einigen Jahren “verfallen”, so ist eine Befangenheit dieser Mitglieder weiterhin mindestens fraglich.


[1] Robert Koch-Institut: 95. Sitzung der Ständigen Impfkommission (STIKO), 04./05.03.2020
https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Protokolle/Sitzung_95.pdf?__blob=publicationFile

[2] Robert Koch-Institut: Stellungnahme der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut (RKI) Bestätigung der aktuellen Empfehlungen zur saisonalen Influenzaimpfung für die Influenzasaison 2020/21 in Anbetracht der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (Stand: 30.7.2020), Epidemiologisches Bulletin 32/33 2020, 06.08.2020
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/32-33_20.pdf?__blob=publicationFile

[3] Robert Koch-Institut: Protokoll der 104. Sitzung der Ständigen Impfkommission (STIKO) vom 01.-02. März 2023, 11.07.2023
https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Protokolle/Sitzung_104.pdf?__blob=publicationFile

[4] Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in Österreich: Tabelle Impfplan Österreich 2023/2024, Stand 05.09.2023
https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Impfen/Impfplan-%C3%96sterreich.html

[5] Vaccine: Vaccine effectiveness against laboratory-confirmed influenza in Europe – Results from the DRIVE network during season 2018/19, 22.09.2020
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0264410X20310057?ref=pdf_download&fr=RR-2&rr=813f599cd92b66f9

[6] The Lancet: Influenza, 27.08.2022
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)00982-5/fulltext

[7] Eurosurveillance: Interim 2022/23 influenza vaccine effectiveness: Six European studies, October 2022 to January 2023, Volume 28, Issue 21, 25.05.2023
https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2023.28.21.2300116

[8] Ärzte-Zeitung: Kinder gehören zu den Impfkandidaten, 12.09.2023
https://www.aerztezeitung.de/Kooperationen/Kinder-gehoeren-zu-den-Impfkandidaten-442108.html

[9] Robert-Koch-Institut: Geschäftsordnung der STIKO, 20.06.2014
https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Rechtl_Grundlagen/Geschaeftsordnung/geschaeftsordnung_node.html

[10] Robert-Koch-Institut: STIKO-Arbeitsgruppen, Stand: 25.07.2023
https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Mitgliedschaft/Mitarbeit_STIKO-AGen/Mitarbeit_STIKO-AGen_node.html

[11] Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz: Background paper to the recommendation for the preferential use of live-attenuated influenza vaccine in children aged 2–6 years in Germany, 24.10.2013
https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-013-1844-9

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