Großer Spielraum für die Industrie – neue Richtlinien zur Zulassung von Impfstoffen ab August 2023

In der Corona-Krise wurden viele Ausnahmen gemacht. So auch bei der Zulassung von Impfstoffen, die schneller und mit weniger Datengrundlage als jemals zuvor auf den Markt kamen. Diese Ausnahmen sollen nun die Regel werden: Zum 01. August 2023 greift eine neue Richtlinie der Europäischen Regulierungsbehörde, die ab dann für alle Zulassungen von Impfstoffen gilt.

Für die Zulassung eines neuen Impfstoffes müssen die Hersteller umfangreiche Daten zu ihrem Produkt zusammenstellen. Die Beurteilung aller eingereichten Dokumente führt in Europa die Europäische Arzneimittel Agentur (European Medicines Agency – EMA) durch, um zu entscheiden, ob der Impfstoff als unbedenklich und wirksam bezeichnet werden kann. Der Antrag auf Zulassung muss dabei den aktuellen gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen entsprechen. Zum einen sind es EU-Rechtsvorschriften, zum anderen EMA-Richtlinien, die hier die Rahmenbedingungen einer Zulassung vorgeben.

Alte Regularien bei neuen Impfstoffen

Die derzeitige Richtlinie zur klinischen Bewertung von Impfstoffen (Guideline on clinical evaluation of new vaccines) stammt aus dem Jahr 2005 und ist seit 2007 in Verwendung.[1] Bereits seit 2016 wird an einer Anpassung dieses EMA-Dokuments gearbeitet, welches ab dem 01. August 2023 nun greifen wird.[2] Begründet wird die Notwendigkeit einer überarbeiteten Richtlinie mit der Vielzahl neuer Impfstoffe, die in den letzten Jahren entwickelt wurde. Betont werden dabei insbesondere Impfungen für Infektionskrankheiten, für die es bislang noch keine Impfstoffe gab (bspw. Humane-Papillomviren (HPV)-Impfstoffe). Auch betont wird die Zunahme an Kombinations-Impfstoffen (bspw. Masern-Mumps-Röteln-Windpocken-Impfstoffe) und Impfstoffe mit mehreren Subtypen eines Erregers (bspw. Meningokokken-Impfstoffe). Nicht zuletzt genannt werden auch Impfungen in der Schwangerschaft, die mittlerweile auf die werdenden Mütter oder ihr ungeborenes Kind abzielen (bspw. Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV)-Impfstoffe).

Lücken in der Richtlinie werden geschlossen

Bei der Zulassung neuer Produkttypen, teilweise ausgerichtet auf neue Zielgruppen, sind in der Vergangenheit diverse ungeklärte Fragestellungen aufgefallen. Mit der neuen Version der EMA-Richtlinie sollen bisherige Schwierigkeiten bei Zulassungsstudien reduziert werden, indem ein ergänzter, regulatorischer Rahmen erarbeitet wurde. So enthält die Richtlinie nun Angaben zu den Fällen, wenn bei einer Infektionskrankheit unterschiedliche Impfstoffe als Impfserie und Auffrischung zum Einsatz kommen (bspw. COVID-19-Booster); wenn keine Antikörper-Grenzwerte bekannt sind, die eine Immunreaktion nach Impfung mit Schutz vor Erkrankung gleichsetzen (bspw. RSV-Impfstoffe); wie Kontrollgruppen zur Messung der Impfstoff-Effektivität in besonderen Umständen gestaltet werden können (bspw. während einer Pandemie); wie besondere Sicherheitsvorgaben bei besonderen Impfstofftypen erfüllt werden können (bspw. neuartige mRNA-Impfstoffe); wie die gemessene Immunantwort innerhalb einer Studie für die Auswertung einer anderen Studie genutzt werden kann (bspw. COVID-19-Impfstoffe) und vieles mehr.[3]

Während in der Richtlinie von 2005 explizit betont wird, dass sie nicht ausgerichtet ist auf Produkte mit viralen Vektoren, auf Krebs-Impfstoffe und auf passive Impfungen mit monoklonalen Antikörpern, wird all dies mit der neuen Richtlinie erstmals abgedeckt. Darüber hinaus greift die neue Richtlinie für alle zukünftigen Impfstoffe, die Antigene eines Erregers oder auch nur die genetische Information eines Erregers enthalten. Unabhängig davon, ob diese Bestandteile des Impfstoffes natürlichen oder synthetischen Ursprungs sind. Der Verwendung von Nukleinsäuren (tierische oder menschliche DNA und RNA), von Plasmiden (ringförmige DNA von Bakterien) sowie allgemein der Einsatz von Gentechnik (zur Herstellung von Impfstoffen) ist damit wortwörtlich in den Regularien verankert. In der Entwicklung unterschiedlichster Krebs-Impfstoffe, wie sie in den nächsten Jahren für gesunde oder bereits erkrankte Menschen erwartet werden (bspw. mRNA-Produkte der Hersteller BioNTech oder CureVac), wird den Herstellern der Zulassungsprozess entscheidend vereinfacht. Auch der Einsatz monoklonaler Antikörper (bspw. als Alternative zu noch nicht zugelassenen RSV-Impfstoffen) kann damit in Zukunft eine breitere Anwendung finden.

Weiter Spielraum durch unpräzise Vorgaben

Auf der einen Seite sind die Ergänzungen in der neuen Richtlinie äußerst konkret formuliert, um die unterschiedlichen Charakteristiken heutiger und zukünftiger Impfstofftypen möglichst vollständig abzudecken. Auf der anderen Seite sind einige der Änderungen gerade zu Wirksamkeit und Sicherheit von Impfstoffen erschreckend optional gehalten.

So wird gleich eine ganze Reihe an Möglichkeiten aufgezählt, wie die Immunreaktion auf einen gegebenen Impfstoff gemessen werden kann – die Hersteller können damit aus einer breiten Palette unterschiedlicher Antikörper-Typen, Antiköper-Level, Kreuzreaktionen, Immungedächtnissen und berechneter Korrelationen auswählen. Hinzu kommt die Möglichkeit des Vergleichs der Immunreaktionen zwischen unterschiedlichen Studien oder unterschiedlichen Impfstoffen (Immunobridging) sowie der statistische Abgleich mit bereits zugelassenen Impfstoffen in Form einer Nichtunterlegenheitsstudie (Non-Inferiority). Jeder zukünftige Impfstoff wird zumindest eine dieser eröffneten Optionen erfüllen können – die Hersteller können ihrem Produkt entsprechend vorab auswählen, wie sie eine Wirksamkeit aufzeigen oder berechnen wollen.

Falls eine mögliche Impfeffektivität nur geschätzt werden kann – weil neue Inhaltsstoffe, neue Wirkverstärker, neue Produkte gegen bisher nie adressierte Erreger zum Einsatz kommen – reicht sogar nur die Ankündigung einer demnächst geplanten Studie, damit der Prozess auf Zulassung gestartet wird. Es wird betont, dass in manchen Situationen der Nachweis der Wirksamkeit eines Impfstoffes vor dem Zulassungsprozess nicht mal erforderlich ist.

Auch im Bereich der Impfstoffsicherheit bleiben den Herstellern alle Optionen offen. Trotz anderer Erfahrungen mit den COVID-19-Impfstoffen bleibt eine Vorgabe zur Erfassung von Nebenwirkungen von nur bis zu 7 Tagen mit einer Ergänzung bis zu 14 Tagen bei vermehrungsfähigen Lebendimpfstoffen. Für genbasierte Impfstoffe sind keine Ergänzungen enthalten, obwohl eine monatelange Aktivität der mRNA nach Gabe von mRNA-Impfstoffen nachgewiesen werden konnte. Die Dauer der Nachbeobachtungszeit über diese 7 bzw. 14 Tage hinaus soll individuell je nach Impfstofftyp angesetzt werden. Bei derart unkonkreten Vorgaben ist zu erwarten, dass die Hersteller eine möglichst kurze Nachbeobachtungszeit für ihr Produkt ansetzen werden. Es ist nicht in ihrem Interesse, durch eine Reihe von erfassten Nebenwirkungen ihre Zulassung zu gefährden.

Zulassung der COVID-19-Impfstoffe als Ausnahme?

In der Corona-Krise sind Schritte in der Zulassung von COVID-19-Impfstoffen ermöglicht worden, die allein mit dem Status einer Pandemie begründet wurden. Die eine absolute Ausnahme darstellen sollten. Die mit dieser angepassten EMA-Richtlinie jedoch die Regel werden könnten. So ist ein Antrag auf Zulassung schon möglich, noch bevor finale Daten zur Impfeffektivität und Impfstoffsicherheit überhaupt vorliegen. Das Nachreichen grundlegender Daten auch ohne herrschenden Zeitdruck einer ausgerufenen Pandemie wird damit offiziell ermöglicht. (Zur Erinnerung: Das Nachreichen erforderlicher Daten zu den COVID-19-Impfstoffen wurde erst gefordert, dann jedoch fallen gelassen. Eine Zulassung ist teilweise mit verspätet eingereichten Daten, teilweise mit gänzlich fehlenden Daten erteilt worden. In der Ausnahmesituation wurden fortlaufend weitere Ausnahmen gewährt.)

Die EMA gibt sich auch in Zukunft mit Zwischenergebnissen und darauf basierenden Hochrechnungen zufrieden. Zu welchem Zeitpunkt die Zwischenergebnisse aus einer Studie berechnet werden und ob dafür das vorab erstellte Studienprotokoll kurzfristig nochmals angepasst wird, bleibt allein Angelegenheit des Impfstoffherstellers. Damit sind Einflüsse während einer laufenden Zulassungsstudie möglich, was letztlich zu Verzerrungen der Ergebnisse führen kann – die im Interesse der Hersteller zu Gunsten ihres Produktes ausfallen werden. Das Vorgehen beispielsweise der Hersteller BioNTech und Pfizer bei der Zulassung ihres COVID-19-Impfstoffes Comirnaty hat gezeigt, dass mehrfache Änderungen ihres Studiendesigns, unvollständige Erfassung ihrer Versuchspersonen, frühe Auflösung der Verblindung und viele weitere intransparente Prozesse zu unrealistischen Aussagen über die Wirksamkeit und Sicherheit ihres Produktes geführt haben.

Kurz: Die überarbeitete EMA-Richtlinie gibt den Impfstoffherstellern detailliert vor, welche Informationen aus Studien mit Versuchspersonen erwünscht sind, um eine Zulassung eines neuen Impfstoffes zu erhalten. Gleichzeitig stellt die EMA den Herstellern jedoch nahezu frei, wie sie ihre Zulassungsstudien gestalten, um an diese Informationen zu gelangen. Die neue EMA-Richtlinie zur klinischen Bewertung von Impfstoffen kommt einem Freifahrtschein für die Impfstoffhersteller gleich.


[1] European Medicines Agency: Guideline on clinical evaluation of new vaccines, 18.10.2006 

https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/guideline-clinical-evaluation-new-vaccines_en.pdf

[2] European Medicines Agency: Guideline on clinical evaluation of vaccines, 16.01.2023 

https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/guideline-clinical-evaluation-vaccines-revision-1_en.pdf

[3] European Medicines Agency: Concept paper on revision of the Guideline on clinical development of vaccines, 18.05.2017 

https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/concept-paper-revision-guideline-clinical-development-vaccines_en.pdf

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