Seit dem 15. März 2022 greift eine neue Regelung des Infektionsschutzgesetzes, mit der eine einrichtungsbezogene Pflicht zum Nachweis von mehreren COVID-19-Impfungen oder einer COVID-19-Genesung oder einer medizinischen Kontraindikation gegen diese Impfungen eingeführt wurde. Die sogenannte einrichtungsbezogene Impfpflicht für alle Beschäftigten im Gesundheitsbereich und der Pflege ist von Anfang an heftig umstritten.
Mit dieser Impfpflicht werden gleich mehrere Grundrechte verletzt: Neben dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch das Grundrecht auf Berufsfreiheit sowie das Grundrecht auf Selbstbestimmung. Juristisch, medizinisch und politisch wurde in den letzten Monaten intensiv diskutiert, ob diese einrichtungsbezogene Impfpflicht geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sei. In der Folge wurden Dutzende von Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.
Bereits im Februar hatte das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag zur Aussetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht abgelehnt. Damals basierend auf 74 Verfassungsbeschwerden von über 300 Klägerinnen und Klägern. In der Hauptsache nun hat das Bundesverfassungsgericht diese Impfpflicht bestätigt. Auffällig dabei ist, dass diese Entscheidung ohne mündliche Verhandlung entschieden wurde. Und das – verglichen mit den immer noch offenen Verfassungsbeschwerden zur Masern-Impfpflicht von März 2020 – in Windeseile.
Kenntnisstand vor Omikron
Aus der Ablehnung der Verfassungsbeschwerde lässt sich klar herauslesen, dass veraltete Fakten zur Entscheidung herangezogen wurden: „Der Gesetzgeber konnte zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes von einer sich verschärfenden pandemischen Lage und einer damit einhergehenden besonderen Gefährdung älterer und vorerkrankter Menschen ausgehen.“ Das Gesetz wurde bereits am 10. Dezember 2021 verabschiedet, gerade zu Beginn der Ausbreitung der Omikron-Variante. Damit sind alle Erkenntnisse zum Einfluss von Omikron mit deutlich verringerten Hospitalisierungsraten und Sterberaten sowie abnehmender Impfeffektivität nicht in diese Entscheidung mit eingeflossen.
Das bekannte Problem, dass die Datenlage in Deutschland völlig unzureichend ist, erhält hier eine besondere Tragweite. Mit den Erfassungen, wie sie sauber unterschieden nach Impfstatus beispielsweise in Großbritannien veröffentlicht werden, hätte das Bundesverfassungsgericht nicht derart begründen können: “Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes ging eine deutliche fachwissenschaftliche Mehrheit davon aus, dass sich geimpfte und genesene Personen seltener mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren und daher das Virus seltener übertragen können.” Infizieren sich doch mittlerweile überwiegend die zweifach und dreifach COVID-19-Geimpften (verglichen jeweils pro 100.000 Personen nach unterschiedlichem Impfstatus).
Erstaunlicherweise findet sich in der Begründung des Gerichts auch die völlig überholte Annahme, die COVID-19-Impfung würde einen Schutz vor einer Infektion mit SARS CoV 2 bieten. “Es ist weiterhin davon auszugehen, dass eine Impfung jedenfalls einen relevanten – wenn auch mit der Zeit abnehmenden – Schutz vor einer Infektion auch mit der aktuell vorherrschenden Omikronvariante des Virus bietet.” Richtet sich die Werbung für COVID-19-Impfungen doch explizit auf die Verhinderung schwerer Verläufe, weil es offenkundig ist, dass COVID-19-Geimpfte sich sehr wohl infizieren und auch erkranken. Keiner der derzeitigen COVID-19-Impfstoffe bietet eine sterile Immunität. Dieses Wissen besteht seit den vorklinischen Studien an Menschenaffen, die noch vor Beginn der Zulassungsstudien am Menschen durchgeführt wurden.
In den wöchentlichen Lageberichten des Robert Koch-Institutes (RKI) zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) findet sich in der Folge seit dem 05. Mai 2022 nun nicht mehr diese frühere Unterscheidung nach Impfstatus: “Die Infektionsgefährdung wird für die Gruppe der Ungeimpften als sehr hoch, für die Gruppen der Genesenen und Geimpften mit Grundimmunisierung (zweimalige Impfung) als hoch und für die Gruppe der Geimpften mit Auffrischimpfung (dreimalige Impfung) als moderat eingeschätzt.” Die Daten des RKI zeigten tatsächlich schon viele Wochen zuvor, dass die Infektionsgefahr für alle betrachteten Gruppen nahezu gleich liegt – für Menschen mit Booster-Impfung sogar noch geringfügig höher. So findet sich mittlerweile im RKI Wochenbericht nur noch diese Einschätzung: “Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung durch COVID-19 für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als hoch ein.” Das Bundesverfassungsgericht datiert seinen Beschluss mit dem 27. April 2022, also einige Tage vor dieser offiziellen Änderung des RKI.
In der Summe ist es ein veralteter und lückenhafter Sachstand, den das Bundesverfassungsgericht als Grundlage seiner Entscheidung nutzt. Die veränderte Realität unter Omikron hätte die Bewertung der Geeignetheit sowie der Verhältnismäßigkeit einer solchen Impfpflicht in ein ganz anderes Licht gestellt. Entsprechend wurde im Frühjahr 2022 in Österreich eine allgemeine Corona-Impfpflicht direkt wieder ausgesetzt, weil eine solche Pflicht bei der vorherrschenden Omikron-Variante eben nicht als verhältnismäßig zu begründen ist.
Zunehmender Personalmangel noch vor dem nächsten Herbst
Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch eine einrichtungsbezogene Impfpflicht wird vom höchsten Gericht durchaus bestätigt, dieser Eingriff allerdings als verfassungsrechtlich gerechtfertigt betrachtet. Betroffenen bliebe alternativ nur die Aufgabe des ausgeübten Berufs, ein Wechsel des Arbeitsplatzes oder jedenfalls der bislang ausgeübten Tätigkeit, so das Bundesverfassungsgericht. Mit dieser Argumentation wird ein zunehmender Personalmangel in der Pflege billigend in Kauf genommen, wenn ab jetzt ein Teil der Berufstätigen freigestellt oder zur Kündigung oder zu einem Wechsel aus der Pflege gedrängt wird.
Verschärft wird diese Situation zudem noch durch die letzte Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die ab dem 01. Oktober 2022 in Kraft tritt. Ab dem Tag gilt ein Erwachsener in Deutschland nur noch als vollständig geimpft, wenn drei COVID-19-Impfungen erfolgt sind (oder zwei Impfungen und zusätzlich eine Infektion offiziell nachgewiesen werden kann). Demnach werden alle Beschäftigten im Gesundheitsbereich, die aktuell mit zwei Impfungen den Ansprüchen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erfüllen, diese von einem Tag auf den anderen nicht mehr erfüllen. All die Menschen, die sich darüber äußern, dass sie durch die COVID-Impfungen mit gesundheitlichen Folgen zu kämpfen haben und daher jede weitere COVID-Impfung ablehnen, werden somit nicht sofort mit Beginn der Impfpflicht, jedoch zum Oktober diesen Jahres aus dem Beruf gedrängt. Zeitlich fällt dies genau in der Phase des Herbstes, wo saisonal typisch wieder vermehrt mit Atemwegserkrankungen und Hospitalisierungen zu rechnen ist. Eine Verschärfung des Pflegenotstandes ist jetzt schon absehbar.
Da die Umsetzung der gesetzlichen Impfpflicht auf Ebene der Bundesländer, Kommunen und beruflichen Einrichtungen selbst sehr unterschiedlich gehandhabt werden kann, gibt es leider keine allgemeingültige Vorgehensweise, die Betroffenen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht an die Hand gegeben werden könnte. So wurde erst kürzlich veröffentlicht, dass beispielsweise in Berlin noch kein einziges Beschäftigungsverbot ausgesprochen wurde. Wie im Vorfeld der politischen Debatte mehrfach angekündigt, ist die einrichtungsbezogene Impfpflicht organisatorisch kaum umsetzbar.
Abwehrrechte gegenüber dem Staat
Noch liegen weitere Verfassungsbeschwerden gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht beim Bundesverfassungsgericht. Bleiben die Richter dabei, sich auf den Kenntnisstand zu Zeiten der Verabschiedung des Gesetzes zu berufen und der Politik pauschal einen derart weiten Beurteilungsspielraum zu gewähren, ist zu befürchten, dass auch alle weiteren Verfassungsbeschwerden abgelehnt werden.
Aus diesem Grund ist es sicherlich falsch im Moment bei der Verteidigung unserer Grundrechte ausschließlich auf das Bundesverfassungsgericht zu setzen. Jeder Betroffene sollte auf jeden Fall den fachgerichtlichen Rechtsweg beschreiten, sofern er die Möglichkeit hat. Gerade die Verwaltungsgerichte scheinen neutraler zu entscheiden und es lohnt durchaus ein Versuch, da der am 19.05.2022 veröffentlichte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht die am 15.03.2022 geltende Fassung des Infektionsschutzgesetzes, sondern die ab dem 19.03.2022 geltenden Änderung betrifft. Die Fassung vom 15.03. enthielt jedoch bezüglich des Impf- und des Genesenenstatus doppelte dynamische Verweisungen (über eine Verordnung auf die Homepage der zuständigen Bundesbehörden). Diese doppelten dynamischen Verweisungen werden allgemein als nicht verfassungskonform gesehen und wurden auch schon vom Bundesverfassungsgericht kritisch bewertet. Je nach persönlicher Betroffenheit wäre deshalb der fachgerichtliche Rechtsweg durchaus erfolgversprechender als die anhängigen Verfassungsbeschwerden abzuwarten.
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Pflicht zum Nachweis einer Impfung gegen COVID-19 (sogenannte „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“), Pressemitteilung, 19.05.2022 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-042.html
Netzwerk kritische Richter und Rechtsanwälte n.e.V. (KRiStA): Grundrechte ohne Schutz – Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht, 26.05.2022 https://netzwerkkrista.de/2022/05/26/grundrechte-ohne-schutz-der-beschluss-des-bundesverfassungsgerichts-zur-einrichtungs-und-unternehmensbezogenen-nachweispflicht
Berliner Zeitung: Berlin: Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegepersonal kaum umsetzbar, 26.05.2022
https://www.berliner-zeitung.de/news/corona-pandemie-berlin-impfpflicht-fuer-gesundheits-und-pflegepersonal-kaum-umsetzbar-li.230114